Charité-Studie zum weiblichen Sexualerleben
Die Charité - Universitätsmedizin Berlin hat mit einer groß angelegten Fragebogen-Aktion das Sexualerleben der deutschen Frauen untersucht. Jetzt liegen die Ergebnisse der Umfrage vor, die 23 Seiten umfasst und an der 575 Frauen freiwillig und anonym teilnahmen.1 "Wir haben die Fragebögen in ganz Deutschland an Orten wie Arztpraxen, Friseursalons und Universitäten verteilt", berichtet Studienleiterin Dr. Sabine Grüsser-Sinopoli vom Institut für Medizinische Psychologie. Die Befragten waren im Durchschnitt 30 Jahre alt,2 lebten zu 74 Prozent in einer festen Partnerschaft3 und gaben zu allen Bereichen ihres Sexuallebens Auskunft. Sabine Grüsser-Sinopoli: "Es handelt sich hier um eine der detailliertesten Umfragen zum weiblichen Sexualerleben, die je in Deutschland gemacht wurde."
Erster Orgasmus durch Masturbation
Demnach erleben die Frauen ihren ersten Orgasmus im Schnitt mit 16 Jahren, die meisten - nämlich 50 Prozent - bei der Masturbation. Beim Geschlechtsverkehr mit einem Mann kamen 26 Prozent der Befragten erstmals zum Höhepunkt, 15 Prozent genossen ihren ersten Orgasmus in den Armen eines Mannes beim Sex ohne Penetration. Die durchschnittliche Dauer bis zum Orgasmus, so schätzen die Befragten, beträgt acht Minuten. 56,9 Prozent der Frauen gaben an, mehrere Orgasmen ("multipler Orgasmus") beim Geschlechtsverkehr zu erleben. Das durchschnittliche Alter beim ersten heterosexuellen Verkehr lag bei 17 Jahren, die Anzahl der Sexualpartner reichte laut Umfrage von Null bis 80. Im Schnitt kam jede Frau damit auf acht Sexualpartner.
Der Mythos vom vaginalen Orgasmus
Während es also den multiplen Orgasmus häufig
gibt, räumt die Studie mit einem anderen Mythos auf: dem
"erdbebengleichen" vaginalen Orgasmus. Nur ein Bruchteil der Frauen,
so ergab die Studie, unterscheidet überhaupt zwischen einem
klitoralen und vaginalen Orgasmus. Frauen ordnen diesen beiden
Begriffen eher "technische" Aspekte zu: Unter klitoralem Höhepunkt
verstehen sie einen Orgasmus, der durch direkte Stimulation der
Klitoris herbeigeführt wird, der vaginale hingegen durch Penetration
der Vagina. "Die Erlebnisqualität ist in den Augen der meisten
Frauen jedoch nur minimal different", fasst die Diplom-Psychologin
Anja Lehmann vom Institut für Medizinische Psychologie zusammen.
"Der klitorale Orgasmus wird - wenn überhaupt - als punktueller und
daher intensiver erlebt, der vaginale eher ganzheitlich-diffus."
Auf die Intensität hat ebenfalls keinen Einfluss, ob der Orgasmus
bei der Selbstbefriedigung, beim Streicheln oder Geschlechtsverkehr
erlebt wird. "Letztlich geht jeder Orgasmus von der Stimulation der
Klitoris aus, ohne Stimulation der Klitoris ist ein Orgasmus fast
nicht möglich. Dabei ist die außen sichtbare Klitorisspitze nur ein
kleiner Teil des Organs, das elf Zentimeter lang ist und dessen
Nervenenden bis in die Vagina und die Oberschenkel hineinreichen",
so Dr. Sabine Grüsser-Sinopoli.
Dem Partner zuliebe - der vorgetäuschte Orgasmus
Und wie steht es mit der Wahrhaftigkeit? 90 Prozent der befragten Frauen gaben an, ihrem Partner schon einmal einen Orgasmus vorgetäuscht zu haben. "Davon wiederum erklärten zehn Prozent, das Vorspielen öfter praktiziert zu haben", so Grüsser-Sinopoli. "Es handelt sich hier offenbar um kein regelmäßiges Verhalten." Klar ist: Wenn Frauen einen Höhepunkt vortäuschen, dann tun sie es ihrem Partner zuliebe. So wollen 41 Prozent damit ihren Partner bestätigen, 25 Prozent den Orgasmus des Partners beschleunigen, 15,9 Prozent meinen "es" ihrem Partner schuldig zu sein und 14,7 Prozent trauen sich nicht, ihrem Partner zu sagen, dass sie keinen Orgasmus hatten.
Note "gut": Frauen sind mit ihren Partnern zufrieden
Frauen betrachten und bewerten ihr Sexualerleben
vorrangig unter partnerschaftlichen Aspekten. So finden Frauen die
These "Wenn ich nicht zum Orgasmus komme, liegt es eher an meinem
Partner als an mir" nur zu 36 Prozent zutreffend und delegieren die
Verantwortung damit nicht an ihre Partner.4 Ganz in
diesem Sinne wollen sie Befriedigung beim Sex auch nicht unbedingt
mit einem Orgasmus gleichsetzen - dieser Annahme schreiben sie
ebenfalls nur 36 Prozent Gültigkeitsgehalt zu.5
Gleichzeitig ist es den meisten Frauen wichtig, gemeinsam mit dem
Partner einen Orgasmus zu erleben.6
Die allgemeine Zufriedenheit mit ihrem partnerschaftlichen
Sexualleben bewerten die Frauen immerhin mit 72 von 100 erreichbaren
Punkten - wobei sie ihren Partnern zugleich ein gutes Zeugnis
ausstellen: Auf die Frage nach dem Interesse des Partners an ihren
sexuellen Wünschen und seiner Bereitschaft, sich an ihren
Bedürfnissen zu orientieren, vergeben die Frauen im Durchschnitt 75
von 100 möglichen Zählern.
Weitere Ergebnisse der Studie: 70 Prozent der Befragten erklärten,
ein bis zwei Mal pro Woche mit ihrem Partner zu schlafen. Und nach
einer Schwangerschaft empfinden die Frauen ihr Sexualerleben stärker
beeinträchtigt als das ihres Partners.7
Ranking der Sex-Faktoren: Geruch und Stimmung sind entscheidend
Auch zu den Einflussfaktoren auf das weibliche
Orgasmuserleben äußerten sich die Befragten detailliert. Ergebnis:
Der "Geruch des Partners" steht an erster Stelle, auf dem zweiten
Platz die "Stimmung", gefolgt von "Hygiene des Partners",
"Klitorisstimulation" und "Sicherheit vor Krankheiten". Weit vorne
liegen auch die Parameter "Offenheit" und "Vertrauen". Attraktivität
des Partners, Verliebtsein oder Erfahrung des Partners belegen
hingegen nur mittlere Plätze beim Ranking der Sex-Faktoren. Auch die
"Länge des Penis" spielt nur eine nachgeordnete Rolle, rangiert
gleichauf mit "dirty talk" und Sex in der Öffentlichkeit.
"Der weibliche Orgasmus ist in erster Linie eine
Stimmungsangelegenheit, eine Frage des Sich-Einlassens", fasst Anja
Lehmann zusammen. Und die Zufriedenheit mit dem Sexualerleben hat
bei Frauen weniger mit dem Orgasmus oder der Partneranzahl zu tun,
sondern mehr mit Vertrauen und Kommunikation. Weibliche Sexualität
ist komplex, eine einfache Handlungsanweisung gibt es nicht."
Erst heterosexuelle Erfahrungen, dann gleichgeschlechtlicher Sex
Zwar verfügen nur 105 der Befragten über
gleichgeschlechtliche Sexualerfahrungen. Bei ihnen steht jedoch
fest: Frau kommt mit Frau häufiger zum Orgasmus. So gaben die
Befragten an, mit 50 Prozent ihrer bisherigen männlichen
Sexualpartner einen Orgasmus erlebt zu haben - bei den
Sexualpartnerinnen lag diese Quote bei 75 Prozent.
Frauen machen übrigens in der Regel zu einem späteren
Lebenszeitpunkt intime Bekanntschaft mit Frauen als mit Männern.
Während der erste heterosexuelle Geschlechtsverkehr im Schnitt mit
17 Jahren erlebt wird, folgt die erste gleichgeschlechtliche
Erfahrung mit 21 Jahren.
Selbstbefriedigung als selbstverständlicher Teil der Sexualität
Als erstaunliches Ergebnis wertet Sabine
Grüsser-Sinopoli die Tatsache, 18 Prozent der Befragten zum Thema
Selbstbefriedigung keine Angaben machten. "Masturbation ist trotz
der allgegenwärtigen Sexualisierung unserer Gesellschaft offenbar
für einen größeren Teil der Frauen immer noch ein Tabu. Religiöse
Gründe waren für diese Verschwiegenheit nicht erkennbar."
Dennoch kennt der überwiegende Teil der Frauen seinen eigenen Körper
sehr gut. So gaben 77,8 Prozent der Befragten an zu masturbieren,
wobei Phantasien wichtig sind und die Rückenlage bevorzugt wird.8
Frauen kommen im Übrigen bei der Selbstbefriedigung auch nicht immer
zum Orgasmus - dies geschieht in 80 Prozent der Fälle. Das
Durchschnittsalter für den Beginn der Selbstbefriedigung liegt bei
14,3 Jahren.
Portiokappe und Pille sind die beliebtesten Verhütungsmittel
Zu Verhütungsmitteln befragt, bewerteten die Frauen das häufigste Kontrazeptivum - die Anti-Babypille - auch als eines der zufriedenstellendsten.9 Als angenehmer empfinden die Befragten nur noch neuartige Verhütungsmittel wie die Portiokappe oder Geburtenkontrolle durch Fruchtbarkeitstests per Urinstreifen.10
Jede fünfte Frau hat sexuelle Mißbrauchserfahrungen
Die Umfrage brachte allerdings auch sehr erschreckende Erkenntnisse zu Tage: 18,8 Prozent der Befragten gaben an, sexuelle Mißbrauchserfahrungen gemacht zu haben, das Durchschnittsalter zum Zeitpunkt des Missbrauchs lag bei 8,6 Jahren. Opfer einer Vergewaltigung wurden nach eigenen Angaben 4,5 Prozent der Frauen.
Kerstin Ullrich
(08.11.2004)
Rückfragen beantwortet Ihnen: Anja Lehmann, Telefon 0 30 / 4 50 52 95 24
1 Die Umfrage ist in großen
Teilen unveröffentlicht und wird im Rahmen einer Doktorarbeit
ausgewertet.
2 Das Alter der Befragten
rangierte von 17 bis 71 Jahren.
3 Von den Befragten lebten 74
Prozent in einer festen Partnerschaft, acht Prozent in einer
"offenen" Beziehung, 17 Prozent hatten zum Zeitpunkt der Befragung
keinen Partner. Die Verteilung Ost - West war gleichauf, über die
Hälfte der Befragten besaß einen gymnasialen Schulabschluss.
4 Faktor 36 auf einer Skala
von 0 = "trifft nicht zu" bis 100 = "trifft zu".
5 Ebenfalls Faktor 36 auf
einer Skala von 0 = "trifft nicht zu" bis 100 = "trifft zu".
6 Faktor 70 auf einer Skala
von 0 = "unwichtig" bis 100 = "wichtig".
7 Angaben zur Veränderung des
Sexualempfindens nach einer Geburt: Für sich selbst kreuzten die
Frauen im Schnitt den Wert 40 auf einer Skala von 0 = "nicht
beeinträchtigt" bis 100 = "stark beeinträchtigt" an. Für den Partner
setzen sie diesen Wert auf 25,95 fest.
8 Frauen bevorzugen mit 66,1
Prozent die Rückenlage, gefolgt von der Bauchlage (28,2 Prozent). Am
häufigsten stimulieren Frauen bei der Masturbation ihre Klitoris mit
dem Finger (77,4 Prozent bei der Möglichkeit der Mehrfachnennung).
43,5 Prozent befriedigen sich mindestens ein Mal pro Woche.
9 66,78 Punkte auf einer
Skala von 0 = "nicht zufrieden" bis 100 = "sehr zufrieden".
10 Die Rubrik "Anderes" wurde auf der Zufriedenheitsskala mit dem Höchstwert 78 bedacht. Zum Vergleich: Kondome 52, Spirale 47, Koitus interruptus 24, Temperaturmessen 36, Diaphragma 31. Die Portiokappe ist ein kleiner Gummihut, der über den Muttermund gezogen wird.