Körper und Psyche
Krebs trifft auch die Glücklichen
Traurige und stille Menschen erkranken eher an Krebs? Sind irgendwie
selber schuld? Eine Studie räumt mit diesen Vorstellungen auf.
Gründlich.
Von Werner Bartens
Norman
Mailer glaubte zu wissen, was er tun musste, um gesund zu bleiben.
Als der amerikanische Schriftsteller 1960 seine zweite Frau Adele
Morales im Vollrausch niederstach, begründete er die Bluttat damit,
dass er Krebs bekommen hätte, wenn er sich nicht auf diese Weise von
seinen "mordlustigen Regungen" befreit hätte.
Susan Sontag schrieb 1978 in ihrem Buch "Krankheit als Metapher"
über Krebs als Leiden der "seelisch Angeschlagenen". Bis heute hat
sich die Vorstellung von einer "Krebspersönlichkeit" gehalten.
Demnach bekommen Menschen, die eher in sich gekehrt sind, häufiger
Tumore als jene, die aus sich herausgehen können. Die Wissenschaft
widerspricht dem seit langem, und erhält durch eine neue Studie
weiter Unterstützung.
"Weder direkt noch indirekt haben Gefühlszustand und Charakter etwas
mit der Prognose von Krebs zu tun", sagt James Coyne von der
University of Pennsylvania in Philadelphia. Der Psychiater und sein
Team haben zehn Jahre lang mehr als 1000 Patienten mit
fortgeschrittenen Tumoren an Kopf und Hals untersucht und ihr
psychisches Befinden analysiert. Mehr als 600 Patienten sind im
Verlauf der Untersuchung gestorben.
Die Studie, die an diesem Montag im Fachblatt Cancer
erscheint, zeigt, dass auch diejenigen, die sich in den Befragungen
und psychischen Tests relativ zufrieden und ausgeglichen äußerten,
nicht länger lebten als jene, die niedergeschlagen und unglücklich
waren.
"Es gibt bisher keinen wissenschaftlichen Nachweis dafür, dass
psychische Faktoren für die Entstehung von Krebs oder die
Überlebenschancen relevant sind", sagt Peter Henningsen, Leiter der
Klinik für Psychosomatik an der Technischen Universität München.
Entlastender Effekt
Vermutungen, dass der Charakter oder die Persönlichkeit etwas mit
der Krankheit zu tun hätten, seien zudem immer auch mit der Annahme
von Schuld verbunden, sagt Henningsen und fordert daher: "Wenn man
mit der Mär von der Krebspersönlichkeit aufräumt, hat das auch einen
entlastenden Effekt für die Patienten."
Gerade am Anfang der Erkrankung hätten die meisten Krebspatienten
Schwierigkeiten, ihr Leiden zu akzeptieren, sagt Peter Herschbach,
der die Sektion für Psychosoziale Onkologie an der Technischen
Universität München leitet. "Sie fragen sich: Warum gerade ich, war
es der Stress oder bin ich vom Charakter her gefährdet?"
Krankheit als Strafe
Erwachsene bezichtigen sich dann häufig selbst, falsch gelebt zu
haben. Kinder glauben oftmals, dass sie krank geworden sind, weil
sie nicht artig waren. "Krebs ist ein unfaires Unternehmen", sagt
Charlotte Niemeyer, Leiterin der Kinderonkologie an der Freiburger
Universitätsklinik. "Wen es trifft, den trifft es."
Wer sich mit seiner Krankheit auseinandersetzen will, um sie besser
zu verarbeiten, soll das tun - da sind sich alle Experten einig.
"Die Erwartung, Krebs zu bekämpfen und das Leben zu verlängern,
indem man sein psychisches Befinden verbessert, ist jedoch völlig
fehl am Platz", sagt Psychiater Coyne.
Wer sich durch eine Psychotherapie oder in einer Selbsthilfegruppe
besser fühle und den Kampfgeist gegen seine Erkrankung stärken will,
solle entsprechende Angebote wahrnehmen, das könne emotional und
sozial aufbauen. "Die rein körperliche Prognose wird dadurch aber
nicht beeinflusst", sagt Peter Herschbach. "Für Betroffene kann es
dennoch hilfreich sein, schließlich stellen sich viele
Krebspatienten die Frage, wie sie die Zeit erleben, die ihnen noch
bleibt."
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